Rehwildjagd in der Schweiz

Ein Blick auf die Rehwildjagd in der Schweiz zeigt ein äusserst unterschiedliches Bild. Wobei man hier als Beobachter von aussen zunächst einfügen muss, dass sich die Rehwildstrecken in der Schweiz sehr deutlich von denen benachbarter Länder unterscheiden.

Veröffentlicht am 28.03.2023

In der gesamten Schweiz werden seit Mitte der 1970er-Jahre rund 42 000 Rehe erlegt. Um 1975 lag die Rehwildstrecke in Österreich bei rund 150 000 Stück. Von diesem Niveau aus stieg sie hier sehr rasch auf deutlich über 200 000 und kletterte dann während der letzten Jahrzehnte weiter bis auf 280 000 Stück. Die Zusammensetzung der Strecken ist in beiden Ländern sehr ähnlich. Hier wie dort werden fast durchgehend deutlich mehr Böcke als Geissen erlegt. Bei einer Wildart, wo es in der Regel gleich viel männliche wie weibliche Tiere gibt (in der Regel überwiegen sogar die weiblichen) könnte man erwarten, dass die Bestände zunehmen, wenn beim weiblichen Wild deutlich weniger abgeschöpft wird. Da und dort wird dies zwar über den Eingriff bei den Geisskitzen wettgemacht, aber während die Rehwildstrecke in Österreich bis heute stufenweise um mehr als 100 000 (!) Stück angestiegen ist, bleibt sie in der Schweiz konstant. Konkret heisst das: «Seit Mitte der 1970er-Jahre erlegen die Schweizer alljährlich etwa gleich viele Rehe – über beinahe 50 Jahre gibt es keine Zunahme!“ Das ist ein Novum im europäischen Vergleich. Das Reh erobert derzeit sogar neue Lebensräume in Finnland und Skandinavien. Ein weiterer Vergleich streicht die Bedeutung der unterschiedlichen Entwicklung noch besonders heraus: In Österreich gibt es jährlich zwischen 60 000 und 70 000 Stück Fallwild beim Reh – in der gesamten Schweiz werden nur rund 40 000 erlegt. Allein in Oberösterreich weist die Strecke alljährlich deutlich über 75 000 Rehe auf. Der Vergleich der beiden Alpenländer zeigt, dass es beinahe um verschiedene Welten geht, wenn wir hier und dort über Rehe reden. Dazu kommen auch noch Revier- und Patentjagd.

Das Reh im Revier- und im Patentkanton
In Graubünden werden jährlich nur insgesamt 2000 bis 3000 Rehe erlegt. Im Wallis liegt man bei rund 1250 Stück, allerdings sind hier keine Kitze frei – die Walliser erlegen zwei Drittel Böcke und ein Drittel Geissen. Warum explodiert der Bestand nicht? Die Wiedereinbürgerung des Luchses Mitte der 1980er-Jahre hat zwar zu einem starken Abfall in der Rehwildstrecke des Wallis geführt, heute gibt es den Luchs zwar nur mehr im Oberwallis, die Strecke liegt jedoch deutlich über jener vor der Luchsansiedlung. Nehmen wir als Bindeglied zwischen Wallis und Graubünden noch das Tessin. Hier werden überhaupt nur zwischen 300 und 500 Rehe jährlich erlegt; in einzelnen Jahren können es auch einmal 600 bis 700 sein. Das Wallis, das Tessin und Graubünden zusammen umfassen eine Fläche von rund 15 000 km², welche teils grosse Gebirgsregionen abdeckt. In allen drei Kantonen zusammen leben nur knapp 900 000 Menschen. Berge hin oder her, Tatsache ist: Auf dieser Riesenfläche werden im Jahr nur etwa 4600 Rehe erlegt. Das entspricht etwa der Rehwildstrecke des Kantons Zürich. Soll heissen: Rund um die Grossstadt Zürich werden gleich viel Rehe erlegt, wie in den drei grossen Patentkantonen zusammen. Zürich ist mit 1,5 Millionen Menschen einer der dichtest besiedelten Kantone der Schweiz – und, Zürich ist ein Revierkanton.

Interessant ist bei dem Vergleich nicht nur, dass Rehe im dichtbesiedelten Gebiet gut zurechtkommen – die Einwohnerdichte hat per se keinen negativen Einfluss – ein Blick über die gesamte Schweiz zeigt auch, dass die Strecken in den Revierkantonen in der Regel deutlich über jenen in den Patentkantonen liegen. Die Fläche der Patentkantone ist mehr als drei Mal so gross wie jene der Revierkantone, doch im Reviersystem der Schweiz werden vier bis fünf Mal so viele Rehe je 100 Hektar erlegt wie im Patentsystem. Der Vergleich zeigt in erster Linie wie viel der Lebensraum ausmacht. Alle neun Revierkantone der Schweiz liegen grossteils im nördlichen Mittelland. Hier gibt es produktive Rehwildlebensräume. Dabei lässt ein Blick auf die Verteilung der Stickstoffeinträge in der gesamten Schweiz erahnen, dass eine Wildart, die eiweissreiche Pflanzen bevorzugt, jedenfalls davon profitiert. Äsungsangebot und Klima sind zwei grundlegende Faktoren, wenn es um die Dynamik von Schalenwildbeständen geht. Dazu kommt: Trughirsche profitieren überall auf der Welt von menschgestalteten Lebensräumen! Das gilt für Weisswedelhirsche in den Vorgärten amerikanischer Kleinstädte genauso wie für Rehe in unserer Kulturlandschaft. Die Schweiz mag insgesamt keine hohen Rehwildstrecken aufweisen, doch unterschiedliche Jagdsysteme, ganz gegensätzliche Lebensräume und die fehlende Winterfütterung ergeben ein facettenreiches Bild für ein Wildtier, das heute als «Allerweltsart» oft etwas geringschätzig eingestuft wird. Wer Rehe verstehen lernen will, der findet gerade in der Schweiz viele Zugänge und Anregungen.

Text: Dr. Hubert Zeiler
Foto: Rafal Lapinski

 

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