Meine erste Hochjagd

Es war ein guter Entschluss, Jägerin zu werden. Im September des letzten Jahres war ich das erste Mal auf der Bündner Hochjagd. Mit Auszügen aus meinem Jagdtagebuch gebe ich einen Einblick in meine Erfahrungen als Jungjägerin.

Veröffentlicht am 28.08.2023

In meiner Familie gab es bislang keine Jäger. Die Jagd und die Wildtiere faszinieren mich jedoch seit meiner Kindheit. Ich bin in Pirigen, oberhalb Langwies, aufgewachsen. Die Hirschbrunft hautnah zu erleben, Jägern zu begegnen und erlegtes Wild zu sehen – das war im Herbst Alltag. Wir mussten nachts gar Holzscheite aus dem Schlafzimmer auf die Wiese unter dem Haus werfen, damit sich die röhrenden Hirsche wieder ein bisschen entfernten und wir in Ruhe schlafen konnten. Die Jagdprüfung hatte ich für mich lange Zeit aber nicht auf dem Radar. Während des Studiums in Wädenswil wurde mir bewusst, wie wichtig die Jagd für ein funktionierendes Wildtiermanagement ist. Insbesondere in meinem Heimatkanton Graubünden. Als dann in meinem Umfeld ein paar Frauen auf die Jagd gingen, dachte ich plötzlich «Warum nicht»?

Die Tage vor Jagdbeginn

Alle fragen: «Gehst du auf die Jagd? Hast du das Patent schon gelöst? Wo gehst du auf die Jagd? Gehst du alleine oder in einer Gruppe?» Ja, all diese Überlegungen … «Aber eins nach dem andern», sage ich mir. Ich trainiere im Schiessstand, mache den Schiessnachweis, lasse die Waffe kontrollieren und eintragen, löse das Patent, kaufe Jagdkleidung und neue Wanderschuhe. «Du musst nur wissen, wo du am ersten Jagdtag um 6:00 Uhr bist», sagt jemand. Der Tag rückt immer näher. Der 3. September. Dabei weiss ich noch gar nicht, ob ich mich im Schanfigg im Maiensäss jagdlich installieren, oder ob ich von zuhause aus dem Rehwild in der Bündner Herrschaft hinterher soll. Ich erzähle einer Jägerin von einem mutmasslich jagdbaren Rehbock in der Nähe meines Daheims. «Wenn du nicht am ersten Tag dort bist, hat ihn jemand anders!», wird mir prophezeit. «Bist du nervös?», fragen alle. Eine Psychologin hat mir mal erzählt, dass schon Jäger vor der Jagd zu ihr gekommen seien, weil sie nicht mehr zurechtkamen. Unruhige Nächte, die Aufregung, die Nervosität. Ich dachte immer, das sei ein Phänomen der wirklich Angefressenen. Und plötzlich erfasst es mich auch. Ich träume von der Jagd, von austretendem Wild, und wache in heller Aufregung auf. Die Gedanken kreisen um die Jagd – Tag und Nacht.

Learning by doing

Eine Bekannte, die auch Jägerin ist, der ich mich hätte anschliessen können, geht dieses Jahr nicht auf die Jagd. Ein Kollege geht mit seinem Bruder – in der Hütte ist kein Platz für mich. Ich entscheide mich, auf eigene Faust loszuziehen. Und für die Jagdhütte im Schanfigg. Ich will meine eigenen Erfahrungen sammeln. Auch wenn ich von erfahrenen Jägern hätte viel lernen können. Auch wenn ich in einer Gruppe profitiert hätte. Ich will dieses Learning by doing. Und so packe ich am Tag vor Jagdbeginn das Auto, richte mich im Maiensäss ein, fahre zurück an die Hauptstrasse und schultere mein Gewehr.

Auszüge aus dem Jagdtagebuch

3. September – erster Jagdtag
Am Vormittag sehe ich eine Rehgeiss, alleine, ziehend. Ist sie schon älter? Ist sie wirklich alleine? Es regnet, aber auf meinem Posten unter dem Baum spüre ich keinen Tropfen.

4. September
6.30 Uhr. Gerade auf meinem Posten eingerichtet. Es wird langsam so hell, dass ich etwas erkennen würde, denke ich. Ich schaue auf. Da! Eine ältere Hirschkuh mit einem Schmalspiesser im Anhang! Die Spiesse ca. 10 cm, unter den Lauschern – im Bast? Also kein Kalb. Beide erlaubt. Schon sind sie hinter den aufkommenden Fichten. Wenige Meter ob mir ziehen sie ins Tobel hinab. Die verpasste Chance!

5. September
Beim Verlassen meines Postens sehe ich unter mir im Tobel Rotwildlauscher – nur kurz. Am Nachmittag Nieselregen.

6. September
7.15 Uhr. Rehgeiss mit Kitz, wahrscheinlich die vom 3. September, also ist sie doch nicht allein. Am Nachmittag sitzt ein Jäger etwas oberhalb meines Postens hinter einer kleinen Fichte. Man sieht ihn doch von überall? Was tut er bloss da? Ich lasse ihn und wechsle zum Riedboden – schlecht überschaubar, viele Äste im Weg, aber beliebter Platz beim Wild. In der Mitte ein Dachsbau. Ganzer Tag trocken und warm.

7. September – mein Gamstag
5.55 Uhr. Ich treffe auf einen anderen Jäger. Kurzer Austausch. 9.10 Uhr. Rehgeiss mit Kitz. Am Nachmittag gehe ich runter ins Tobel. Im Gegenhang Gämsen (zwei Geissen mit zwei Kitzen und ein weiteres Tier). Ist dieses jagdbar, da ohne Kitz? Ich bin aber oberhalb der Höhenkurve (1600 m. ü. M.). Das Leittier sieht mich, pfeift über mehrere Minuten mehrmals. 14.45 Uhr. Die schlauen Tiere gehen tobelauswärts auf meiner statt auf der gegenüberliegenden Seite, wo ich Blick auf den Wechsel hätte. 15.30 Uhr. Vier Gämsen (zwei Geissen, zwei Kitze). Sind nicht dieselben. Keine ist so aufmerksam wie das Leittier der anderen fünf. Keine hat solch langen Krickel. Sie sehen mich, pfeifen aber nicht. Beobachte sie u?ber 30 Minuten. Dann ziehen sie zügig aufwärts. Weitere drei Tiere erscheinen. Eine Geiss, ein Kitz und das dritte, eher rötliches Fell, könnte wieder das mutmasslich jagdbare sein? Oder doch eher ein Gamsbock, er jagt den anderen hinterher.

8. September
Gestern am Abend spät, Rückkehr in die Zivilisation. Nach fünf Tagen wieder einmal unter einer Dusche stehen. Heute Morgen viel Niederschlag. Ab 15.30 Uhr wieder auf dem Posten, schönes warmes Wetter.

9. September
7.00 Uhr. Braunes Reh taucht auf. Eher klein. Geiss? Kitz? Ich beobachte sie eine Weile. Sie scheint alleine zu sein, bewegt sich anders als das Kitz von der roten Geiss. Dann doch noch – etwas oberhalb taucht ihr Kitz auf. Also sind hier zwei führende Rehgeissen mit je einem Kitz unterwegs. Eine rote, grössere Rehgeiss mit einem übermütigen Kitz und eine kleinere, braune Rehgeiss mit einem selbstständigeren Kitz. Aus dem Tobel kann ich kurz nach Mittag ein paar Gämsen weit über mir beobachten, dann Nebel. Später 13 Gämsen. Drei Böcke (?) am Spielen beziehungsweise Kämpfen. Wenige Jungtiere. Ein roter, mittlerer. Mindestens zwei dunkelgraue, grosse. Verschwinden alle wieder. Etwas weiter oben tauchen drei auf, ein vierter beobachtet lange alles von oben herab. Der Aufpasser. Die anderen drei: der rote, der schwarze, der braune. Bockrudel? Kann sie lange beobachten, sind aber weit oben. Eventuell gehe ich am Abend noch mal dahin ...

10. September
Am Vormittag ist alles dabei: Nebel, Sonne und Regen. Ich treffe einen anderen Jäger und tausche mich mit ihm aus. Im Wildasyl eine Rehgeiss mit ihren zwei Kitzen, weiter oben ein prächtiger Gamsbock am Bachhang. Auf der Krete des Geröllhangs sechs Gämse. Am Nachmittag vier Gämse direkt bei Ankunft am selben Posten. Ein Jährling und drei Adulte? Korrekt ansprechen! Doch zwei andere Jäger weiter unten stören sie, sie ziehen weg. Der prächtige Gamsbock vom Vormittag ist immer noch oben.

19. September
Am Vormittag ist es mir zu kalt. Ich friere und kann kaum ruhig sitzen. Kein Tier gesehen. Am Nachmittag vier Hirsche im Wildasyl und später flüchtet ein Gamsrudel sehr schnell abwärts, vorderstes Tier schwarz und stark, gefolgt von ihrem Kitz. Das Gamsrudel überquert das Tobel in Richtung der Hirsche. Fünf Hirsche tauchen auf, um zu schauen, was los ist. Alle Tiere verschwinden. Auf meiner Pirsch durch den Wald sehe ich einen Hirsch davonziehen. Am Abend sehe ich vom Sitz aus einen Schmalspiesser im Wildasyl. Abwarten. Zwei Jäger der Gruppe, welcher der Posten gehört, überlassen mir den Sitz. Nochmals zwei Tiere am selben Ort gesehen, ein graueres und der rote, vermutlich der Schmalspiesser. Sie drücken sich vorbei. Leider sind beide nicht mehr näher ausgetreten. Kurz vor Jagzeitende steuert noch ein Dachs auf der Wiese umher. Ich lasse das schöne Tier leben.

20. September
11.50 Uhr. Zwei Schu?sse in der Nähe. 12.30 Uhr. Ein Gams (?), gefolgt von einer Hirschkuh, flüchtet am Gegenhang auf Schussdistanz aufwärts. War das erste Tier ihr Kalb? Nein. Ein einzelner Gamsbock. Ich sehe ihn 15 Minuten später wieder. Hellbeige. Also ist die Hirschkuh alleine?! Genau da, wo sie durch ist, ein paar Meter oberhalb – ein Jäger! Warum habe ich ihn nicht gesehen? Er regt sich ständig und zieht dann ab. Scheucht er die Hirschkuh in mein Schussfeld? Leider nein. Kehre in meine Jagdhütte zurück. Am Abend Feldhase, sonst nichts.

Beim Ansitz war Geduld gefragt. (Bild: Cilgia Schatzmann)

21. September
6.00 Uhr. Hirschen röhren im Prätschwald. Ich sehe Hirschwild im Wildasyl, ab und zu einen Fuchs, die Sonne scheint. Es passiert nichts mehr … Ich suche einen neuen Posten auf, richte mich ein unter einer grossen Fichte mit weiter Sicht über die Wiese und dem Waldrand entlang. Kein Tier gesehen, es knackt ab und zu im Wald oben. Ein Wanderer umrundet das Gebiet, eventuell stört er zu fest. Sehe meinen alten Bekannten – den Hinkebein-Fuchs. Wirkt gesund und kräftig, ist zügig unterwegs auf drei Beinen. Lasse ihn leben.

22. September
Nichts mehr zu sehen. Unterhalte mich eine Weile mit einem anderen Jäger. Er hat bereits etwas erlegt und macht einen zufriedenen Eindruck. Ich richte mich in einem anderen Tobel ein und verbringe Nachmittag und Abend dort. 17.10 Uhr. Ein Schmaltier oder eine Hirschkuh wechselt schnell durch das Tobel. Wäre ich weiter oben gewesen, hätte sie ideal vor mir auf Schussdistanz gewechselt!

23. September – Motivationstief
Habe ein Motivationstief. 6.30 Uhr. Beim Beinbruchsitz ausser einem motzenden Eichhörnchen, das mich wohl kurz nach Beendung seiner Nachtruhe erblickt hat, keine Tiere. Nach dem Mittag beim Maselfa-Seeli eine Rehgeiss (rot) mit zwei schon recht grossen, hellbraunen Kitzen. Motivationstief hält an und ich mache mich auf den Heimweg. Beim Abwärtsgehen plötzlich vor mir auf etwa 60 Meter Distanz: eine Hirschkuh im Wald. Ich setze den Stutzer an. Stehend frei eine Schussabgabe? Und was, wenn ihr doch noch ein Kalb folgt? Ich senke den Lauf und sage mir: «Heute nicht mehr…»

24. September
Pause.

25. September
Mittagszeit: Von der Jagdhütte aus sehe ich einen schönen Hirschstier plus drei bis vier Stu?ck Kahlwild im Wildasyl. Beinbruchsitz am Abend. Keine Tiere. Nebel und Regen. Wechsle zum Steinsitz. Keine Tiere. Viel Regen. Ich halte durch.

26. September
Oben noch neblig, darum Steinsitz. Es hat geschneit bis etwa 2000 m ü. M. Keine Tiere. Ich friere. Wieder sehe ich Hirsche im Runatobel, nähe Wildasyl. Am Nachmittag zieht es mich wieder aufwärts in Richtung Maselfa-Seeli. In der grossen Kurve vor dem Frauenbach höre ich ein Geräusch wie ein Hecheln und Laute wie Wehlaute. Einen Sekundenbruchteil habe ich das Bild vor Augen. Ein Reh, gejagt von einem Wolf? Oder war es ein Goldschakal? Danach höre ich das Reh noch schrecken. Etwas später, direkt an der Strasse, entlang deren ich mich aufwärtsbewege, ein zu langer Gabler – nicht erlaubt. Er schaut mich lange an. Ein Auto stört die Situation.

27. bis 30. September
Ich verschiebe ins Palätsch und versuche es im Gründji- Tobel. Die Hirsche röhren gegenüber im Prätschwald, Luftdistanz keine 200 Meter. Ich lausche ihnen. Es geht durch Mark und Bein. Doch sie hocken im Asyl. Sie wissen Bescheid. Trotzdem harre ich hier noch die letzten Jagdtage aus und ziehe es durch. Eines Abends, nach Schussende, ich richte mich auf und nur ein paar Meter oberhalb auf der anderen Seite des Bahngleises, ein Hirsch! Weiter oben noch mehr Tiere! Aber auf der Wiese, auf die ich freie Sicht hatte, will natürlich keiner auftauchen… Es freut mich, als der Nachbar in unmittelbarer Nähe Erfolg hatte.

Fuchs, du hast die Milch gestohlen

Ans Ansitzen muss ich mich gewöhnen. Aus dem Arbeitsalltag, wo der Kopf immer was zu tun hat, will er auch jetzt ständig Infos erhalten. Doch das Natel muss weg. Auch habe ich in der Jagdhütte keinen Strom, muss sparsam umgehen mit dem Akku. Stundenlanges Ausharren, dasitzen, das Sichtfeld absuchen. Die Augen werden besser. Die Ohren nehmen jedes Geräusch wahr, auch das entfernte Zischen einer Wasserleitung. Äste knacken. Ein Stein rollt den Geröllhang hinab. Die Vogelschar, wie sie erwacht. Ein Eichhörnchen, das eilig die Baumkrone verlässt. Mit der Zeit gelingt es mir immer besser, ruhig dazusitzen, zu lauschen und die ganze Umgebung zu registrieren. Ich sehe fast jeden Tag Füchse. Einer hat mir gar die Milch aus dem Brunnen gestohlen, wie ich eines Morgens feststellen musste! Manchmal packt mich die Unruhe und ich muss den Ansitz verlassen. Ziehe umher. Tauche ein in mein Jagdgebiet. Sauge alles auf. Auch in der Hütte habe ich keine Ruhe. Bin ich dort, zieht es mich wieder raus. Nach ein paar Tagen des Früh-Aufstehens bin ich auf dem Posten noch immer so müde, dass ich beim Ansitzen einnicke. Die Ohren bleiben wach.

Ohne Beute nach Hause

Meine erste Hochjagd war für mich ein Erfolg. Obwohl ich ohne Beute nach Hause kam. Alle drei Jagdwochen konnte ich mich voll auf die Jagd konzentrieren. Fast täglich habe ich Wild gesehen. Rotwild, Rehwild, Gamswild und Raubwild. Es war alles dabei. Nur Jagdbares war nicht viel dabei. Und wenn, dann waren es verpasste Chancen. Manchmal sage ich: «Als Jägerin bezeichne ich mich erst, wenn ich Erfolg hatte.» Es steht also noch immer kein Tiefkühler in meinem Keller. Doch bald ist es wieder September.

Text: Cilgia Schatzmann
Bild: Stefan Vogel

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