Die Strippenzieherinnen

Die Hirschbrunft ist für einige der Höhepunkt des Jagdjahres. Das Getöse und Getümmel am Brunftplatz lässt kein Jägerherz kalt. Doch wer lenkt tatsächlich das Geschehen aus dem Hintergrund? Vielleicht sogar die scheinbar unbeteiligt wirkenden und friedlich mit ihren Töchtern äsenden Hirschkühe. Der «Harem», der dem Platzhirsch zufällt, ist kein willenloser Haufen paarungsbereiter Weibchen. Sie sind die wahren Strippenzieher hinter dem Brunftgeschehen.

Veröffentlicht am 25.09.2023

Strenge Spielregeln

Interessenskonflikte zwischen den Geschlechtern kennt nicht nur der Mensch. Auch bei Wildarten sind zwar die Ziele grundsätzlich gleich, sie wollen Stammvater oder Stammmutter einer langen Reihe von Nachfahren sein. Die Wege dorthin sind jedoch verschieden: Ein Hirsch will so viel wie möglich Nachkommen zeugen – Masse kommt vor Qualität. Eine Hirschkuh will den besten Vater für ihren Nachwuchs und setzt auf ihr Vermögen, die guten von den schlechten Paarungspartnern unterscheiden zu können. Die unterschiedlichen Lebensstrategien haben nicht nur zu dem beachtlichen Grössenunterschied zwischen Hirsch und Hirschkuh geführt. Die Währung für den Rothirsch ist das Pfund. Je stärker sein Gewichtsverlust im Laufe der entscheidenden Wochen, desto mehr hat er sich «reingehängt».

Männliche Hirsche altern auch deutlich schneller als Kühe und haben insgesamt eine kürzere Lebenserwartung. Hat der alte Hirsch seinen Höhepunkt als Platzhirsch überschritten, sinkt er schnell in der Rangordnung nach unten, noch bevor er auch im Körperbau und am Geweih deutlich sichtbar zurücksetzt. Der harte Kampf am Brunftplatz fordert den Platzhirsch aufs Äusserste. Selbst mit besten Genen, optimalem Timing, sorgfältig aufgebauten Reserven und einem imponierenden (teuer produzierten) Geweih hält ein Hirsch diese Belastung nur wenige Jahre lang durch. Weibliches Rotwild bleibt dagegen bis ins hohe Alter relativ «fit»: Auch sehr alte Stücke können noch ein Kalb führen (auch wenn es oft etwas geringer ist). Jedes weitere Lebensjahr ist eine Chance, Nachkommen in die Welt zu setzen. Alte Hirschkühe haben mehr Gene in der nächsten Generation deponiert als solche, die jung sterben.

Noch erfolgreicher sind Kühe, die einen «jungen Prinzen» in die Welt setzen. Die Erfolgsaussichten eines Hirsches, einmal einen Harem verteidigen und bewachen zu können, werden in seinem ersten Lebensjahr gelegt. Ist seine Mutter eine ranghohe Hirschkuh, wird sie ihrem Sohn bessere Milch und später Zugang zu besserer Äsung verschaffen, als den anderen Kälbern im Rudel zufällt. Er kann schneller wachsen und sich behaupten und hat einen Vorsprung vor anderen gleichaltrigen Hirschen, die diese nicht mehr einholen können. Und dazu hat er als Erbe seiner Mutter, die konkurrenzstark ist, und natürlich des Vaters, einem erfolgreichen Brunfthirsch, auch die besten Gene. Mit etwas Glück wird er zwei bis vier Jahre der Vater fast aller Kälber in einem Rudel sein. Für die Mutter der «Jackpot», denn so werden auch ihre Gene dutzendfach weitergegeben. Tatsächlich können Weibchen die Befruchtung ihrer Eizellen mit Spermien steuern oder das Einnisten unerwünschter Embryonen im Tragsack unterbinden. Ranghohe Hirschkühe setzen mehr Stierkälber (Hirschkälber), rangniedrige Mütter eher Kuhkälber (Wildkälber). Auch hoher Stress im Rudel und schlechte Umweltbedingungen führen via Hirschkuh zu einer Verschiebung des Geschlechterverhältnisses der gesetzten Kälber.

Das Röhren in der Brunft ist auch hoher Kunstgenuss. (Bild: Damian Zenzünen)

Mehr als Radau

Bereits Monate vor der Brunft haben die Hirsche in ihre «Öffentlichkeitsarbeit» investiert mit einer Reihe wichtiger Botschaften: ein mächtiges Geweih («Ich besitze einen ausgezeichneten Kalzium-Stoffwechsel und kann mir die Verschwendung von Nahrungsenergie für dieses Luxus-Merkmal leisten»), Brunftgeruch («Ich habe so viel Fettreserven, dass ich sie grad mit Vollgas verbrennen kann, was zu dem betörenden Duft führt»), tiefe Stimme («Ich bin gross und stark und mit mir ist nicht zu spassen»). Kahlwild und Konkurrenten müssen diese Botschaften zweifelsfrei deuten. Kurze und heftige Scharmützel am Brunftplatz zwischen gleich starken Hirschen dienen oft nur der Bestätigung des bereits «Gesagten».

Doch wirklich erfolgreich sind am Ende nur die Hirsche, die auch Erfahrung mit den Maschen der Frauen haben. Denn letztendlich braucht ein guter Brunfthirsch auch die Kooperation der Alttiere. Sie wählen schliesslich den Vater der Kälbergeneration 2024. Und da kann es vorkommen, dass der potente starke Brunfthirsch seine weibliche Anhängerschaft verliert, wenn am Rande der Arena noch einmal der uralte, zurückgesetzte und schon «abgetretene» Senior auftaucht. Ein leises Knörzen kann genügen und die Kühe folgen der vertrauten Stimme. Denn Hirschkühe vertrauen auch auf Erfahrung und sie bevorzugen einen bewährten Hirsch vor einem unbekannten und ungestümen Junghirsch.

Das aufwendig erscheinende Spektakel am Brunftplatz dient nicht nur dazu, dass Hirsche ihre Qualitäten (und guten Gene) den Kühen vorführen. Auf diese Weise wird Energie eingespart. In jedem Ruf eines Stiers steckt eine Menge Information über den Rufer: Ist er ein ernst zu nehmender Konkurrent? Ist der neu in der Gegend? Kümmert er sich um «seine» Stücke? Soll man sich den Burschen mal näher anschauen – oder ist das zu riskant? Hirsche röhren für andere Hirsche, und sie röhren für das Kahlwild. Beide müssen verstehen, was am Brunftplatz «gesprochen» wird.

Heldentenöre

Hut ab vor dem Wagnersänger, der fünf Stunden lang ein mehr als 100-köpfiges Orchester übert.nen muss. Es liegt nicht an seiner Lautstärke allein, dass er nicht nur hör- sondern auch verstehbar bleibt. Dahinter stehen neben Begabung auch jahrelanges, hartes Stimmtraining – und die Beherrschung der «Formanten». Der sogenannte Formant gibt an, wie stark die stimmliche Energie in einem bestimmten Frequenzbereich gebündelt wird. Der gute Sänger nutzt gezielt andere «Frequenzfenster» als die Musikinstrumente: Er singt «über» das Orchester hinweg und versucht so, die grösstmögliche Verstärkung seiner eigenen Stimme zu wählen.

In dieser Hinsicht ist Hirschgeschrei in der Brunft auch hoher Kunstgenuss. Denn der Geweihte beherrscht seinen Kehlkopf ebenso virtuos wie der Heldentenor. Das Röhren besteht ja nicht nur aus einer Abfolge von Grundtönen. Da gibt es noch jede Menge Halb-, Unter- und Obertöne sowie Rauschanteile. Während der Schrei sich aus den Tiefen des Brustkorbs den Weg nach draussen bahnt, werden einige dieser Töne (Frequenzen) gedämpft, andere durch Resonanz verstärkt. Und so wie beim Opernsänger schwingt schliesslich auch beim Rothirsch der ganze Körper gezielt mit der Stimme. Die Frequenzspektren, die am meisten verstärkt werden, sind die Formanten. Sie prägen die Klangfarbe, das «Timbre» der Stimme und geben ihr das «gewisse Etwas». Der gezielte Einsatz erfordert nicht nur Können, sondern auch Kondition. Denn zum exakten Bündeln der schwingenden Luftsäule müssen Muskeln in Bauch-, Brust- und Kopfraum angespannt werden.

Bisher ist man davon ausgegangen, dass nur der Mensch über einen «abgesenkten» und dadurch äusserst beweglichen Kehlkopf verfügt. Das ist die anatomische Voraussetzung, die ihm erlaubt, Laute und Stimmlage zu variieren und somit Sprache zu erzeugen. Aber auch dieser Nimbus des Homo sapiens ist vergangen. Denn noch andere Säugetierarten verfügen über eine bewegliche Gurgel, um damit gezielt Frequenzbereiche zu wählen, in der sie Resonanzschwingungen erzeugen können. Beim Rothirsch liegt der Kehlkopf bereits das ganze Jahr über tief. Wenn er während der Brunft röhrt und schreit, zieht er ihn noch weiter Richtung Brustbein. Je grösser der Hirsch, desto tiefer die Tonfrequenzen, die er auf diese Weise erzeugen kann. Gut, wenn der Rivale schon am Ruf hört, ob er sich mit dem Rufer einlassen soll.

Wie genau und blitzschnell Hirsch und Tier ihr Gegenüber taxieren, erkennt auch ein aufmerksamer Beobachter der Hirschbrunft. Nähert sich zum Beispiel eine Gruppe junger Hirsche einem alten «Haremshalter», jagt dieser immer den ältesten beziehungsweise stärksten davon. Kommen junge Zwei- bis Dreijährige in die Nähe des Kahlwildtrupps, werden sie ohne Umstände sofort weggescheucht. Ist der Besucher über vier Jahre, geht der Brunfthirsch zuerst auf ihn zu, dann erst stürmt er los. Auf diese Weise lässt er dem Herausforderer Zeit, die Situation einzuschätzen. Unnötige Kämpfe werden mit allen Mitteln vermieden. Trotzdem kommt es im Durchschnitt zu einem Kampf pro fünf Tagen. Und ein starker Hirsch mit einem Brunftrudel muss mindestens fünfmal während der gesamten Brunftzeit einen echten und ernsten Kampf durchstehen. Um unnötige Energieverschwendung zu vermeiden, sind Schreiduelle und – wenn das keine Entscheidung bringt – Parallelmärsche vorgeschaltet. Manchmal kommt es trotzdem sofort und unmittelbar zum Kampf: Entweder ist einer der beiden Beteiligten deutlich dem anderen unterlegen oder ein Hirsch hat sich während der Abwesenheit des Harem-Besitzers das Rudel angeeignet. Kommt der Brunfthirsch dann zurück, wird der Eindringling sofort zum Kampf gestellt.

Sind die Kühe in Brunftlaune, stehen sie besonders auf tiefe Stimmen, was gelegentlich auch direkt einen Eisprung beim weiblichen Tier auslösen kann. Erfahrene Hirsche erkennen, wann das Tier empfängnisbereit ist. Das Tier kann zweifelsfrei denjenigen aus dem Konzert heraushören, in dessen Harem es sich gerade aufhält. Daneben funktioniert aber auch das «Grössengehör» beim Kahlwild. Im Laufe einer Brunftperiode wechseln Tiere immer wieder von Harem zu Harem und taxieren den jeweiligen «betreuenden» Hirsch auch nach seiner Stimme. Körperliche Grösse und Kondition (das hören sie aus schnellen, exakten und oft wiederholten Ruffolgen) und die Rufrate sind ebenfalls Kriterien bei ihrer Partnerwahl.

Ein guter Brunfthirsch braucht auch die Kooperation der Alttiere. (Bild: Reiner Bernhard)

Akustische Schönheits-OP

Bei frei lebendem Rotwild auf der schottischen Hebrideninsel Rum veranstalteten Wissenschaftler eine Art Gesangswettbewerb und spielten dem weiblichen Rotwild Hirschstimmen im Play-back vor. Zusätzlich hatten sie aus dem Röhren verschiedener Hirsche neue Rufe mit unterschiedlichen Frequenzbereichen «zusammen gesampelt». Nun konnten die Biologen messen, wie aufmerksam die Hirsche dem Brunftgeschrei der vermeintlichen Konkurrenten lauschten und wie sie mit eigenen Rufen darauf reagierten. Die stimmlichen Wettkämpfe dauerten umso länger, je tiefer der Schrei des Play-back-Hirsches war. Die echten Herausforderer wollten schon auf Nummer sicher gehen, ob sie den virtuellen Konkurrenten herausfordern sollten. Beim «normalen» Röhren fällt die Frequenz zu Beginn des Rufs, wenn der Hirsch den Träger streckt und den Kehlkopf nach unten zieht. Ist er dagegen schon im Eifer des Gefechts, zum Beispiel nach längerem Schrei-Wettstreit oder weil er eifrig um sein Kahlwild getrollt ist, produziert er sein Röhren nicht mehr so sorgfältig. Die Rufe sind dann rauer, weniger «eintönig» – die Modulation der tiefen Formanten weniger exakt. Fast klingt er dann heiser.

Je tiefer die Stimme und je stärker und bedrohlicher ein Rivale eingeschätzt wird, desto mehr versucht der Herausforderer, seine Töne nach unten zu modulieren, indem er den Stimmapparat so weit es geht dehnt. Das tiefe Röhren wird also nur für die bedrohlichsten Gegner reserviert. Wenn die Forscher im schottischen Versuchsrevier das Röhren aus dem Lautsprecher tiefer als normal regelten, schlugen die Herzen der Hirschkühe höher. Sie hielten sich umso interessierter in der Nähe des Lautsprechers auf, je «grösser» sie den Rufer – wegen der besonders tiefen Stimme – einschätzten. Den Lautsprecher, aus dem ein ungewöhnlich «kleines» Röhren drang, ignorierten sie dagegen. Die akustische Schönheits-OP der Wildbiologen hatten sie sofort erkannt.

Fehlgriffe und Risiken

In der hormonellen Hochstimmung der Hirschbrunft sind Hirsche und Kühe stark erregt. Da kann es schon mal zu «Fehlgriffen» kommen. Kühe reiten dann auf Kühen (eher selten), Stiere auf Stiere. Doch möglicherweise steckt Methode in diesem Verhalten. Anders als bei Hunden, hat das Aufreiten offensichtlich keinen Bezug zur Stellung des Hirsches im Rudelverband. Ludek Bartos, ein tschechischer Verhaltensforscher, hat jahrzehntelang Rotwild beobachtet. Kaum eine Verhaltensweise, die Bartos nicht auf Video festgehalten und analysiert hat. Es waren immer wieder die jüngeren Hirsche, die erst spielerisch, dann gezielt auf einen Artgenossen sprangen. Allgemeine Erregung ist einer der Auslöser, wobei der «Besprungene» das nicht weiter krumm nimmt. Und zuschauende Junghirsche geraten manchmal selbst in sichtbare Wallung. Wahrscheinlich hilft dieses Verhalten den jüngeren Hirschen beim Stressabbau, das jahrelanges, manchmal lebenslanges Zuschauen bei der Brunft erzeugt. Chancenlose Stiere des Mittelbaus entscheiden sich daher manchmal sogar dafür, den Feisteinstand erst gar nicht zu verlassen und zusammen mit ein oder zwei vertrauten Freunden dem Brunftplatz fernzubleiben.

Die Hirschbrunft ist ein komplexes Spiel, dessen Regeln wir im Ansatz kennen, aber sicher noch nicht alles verstanden haben. Je artgerechter sich das Rotwild verhalten kann, desto besser wird das Spiel funktionieren: Die Stiere sparen Energie, die Kühe werden in kurzer Zeit beschlagen. Dazu braucht es erfahrene, reife Tiere. Genau diese natürlichen Sozialstrukturen darf die Jagd nicht gefährden.

Text: Christine Miller
Hauptbild: Reiner Bernhardt

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