Die Augen der Wildnis

An einem Oktobermorgen brach der Autor auf, um einen Brunftplatz in den Bergen zu erkunden. Doch die Wildtiere waren ihm dank ihrer Augen stets einen Schritt voraus. In diesem Artikel tauchen wir ein in die faszinierende Welt des Sehsinns bei Wildtieren und erfahren, wie ihr Überleben von diesem optischen Wunderwerk abhängt.

Veröffentlicht am 23.10.2023

Die Dämmerung war schon fortgeschritten, als ich an einem Oktobermorgen den Aufstieg zu einem guten Brunftplatz in Angriff nahm. Auf den Wiesen lag Reif und knirschte leise unter den Sohlen. Oben am Berg meldete ein Hirsch, ein zweiter antwortete ihm mit schepperndem Bass. Dann war es wieder still. In der feuchten, schwarzen Erde eines Wechsels kam ich fast lautlos voran und gewann rasch an Höhe. Immer wieder blieb ich lauschend stehen. Zwischen den Stämmen hindurch sah man auf den angrenzenden, breiten Graben hinaus, in dem im Winter grosse Lawinen zu Tal donnern. Schritt fu?r Schritt näherte ich mich der Grabenkante und wollte eben hinter einem Baumstrunk in Deckung gehen, als sich gegenu?ber Haupt und Vorschlag eines Alttieres aus dem Lärchenjungwuchs ins Freie schoben. Erst glaubte ich, dass das Stu?ck mich nicht gesehen habe, doch dann verrieten die hoch aufgerichtete Körperhaltung und das unverwandte Starren in meine Richtung, dass es zumindest Verdacht geschöpft hatte. Im anschliessenden Duell «Wer bewegt sich zuerst?» hatte ich die schlechteren Karten, da ich auf zwei und nicht vier Haxen und an einer abschu?ssigen Stelle das Gleichgewicht halten musste. Bald fing das linke Bein an zu zittern und ich versuchte, im Zeitlupentempo in die Hocke zu gehen, um nicht mehr sichtbar zu sein. Die Matrone liess sich nicht täuschen und empfahl sich mit dröhnendem Schrecken. Rehe und Rothirsche schrecken manchmal, wenn sie glauben, etwas Verdächtiges gesehen zu haben, aber keinen Wind haben; sie stossen Warnlaute aus, wenn sie Wind haben, ohne etwas zu sehen, wenn ihnen der Geruch einer frischen, menschlichen Fährte in die Nase sticht oder wenn sie ihr Kitz oder Kalb mit lautem Schrecken und Stampfen zum Abliegen bringen wollen, weil der Wolf unterwegs ist.

Optisches Wunderwerk

Das Auge ist bei vielen Wildtieren ein lebenswichtiges Sinnesorgan, das bei der Nahrungssuche und -beschaffung, bei der Fortbewegung in schwierigem Gelände, bei der Feindvermeidung, der Kommunikation unter Artgenossen, beim Rivalenkampf und beim Auffinden eines Partners unentbehrliche Dienste leistet. Es registriert die sich im Jahresverlauf ändernden Tag- und Nachtlängen und steuert so via Kleinhirn die Ausschu?ttung von Hormonen, die biologische Prozesse in Gang setzen und regulieren.

Ein wahres optisches Wunderwerk ist das Auge der Greifvögel. Dank der phänomenalen Auflösung entdeckt ein Steinadler auf der Warte ein Murmeltier aus grosser Distanz, und dem weit oben am Himmel kreisenden Bartgeier entgeht kaum ein am Boden liegendes Knöchelchen. Blitzschnelles Fokussieren befähigt den im Wald jagenden Habicht, Ästen und anderen Hindernissen auch in hohem Tempo gewandt auszuweichen.

Der Gesichtssinn des Schalenwildes ist gut ausbildet, doch meist erkennen weder die beiden Hornträger noch die zwei Hirscharten ihren zweibeinigen Todfeind, wenn er reglos verharrt und unauffällig gekleidet ist. Je nach Winkel, mit dem das Sonnenlicht einfällt, blitzen Zifferblätter der Uhren und Brillengläser auf und lenken die Aufmerksamkeit des Wildes auf den ansitzenden Jäger. Es ist leichter, äsendes Schalenwild anzupirschen als liegendes. Senken sich die Häupter ins Gras, kann man ein paar Schritte vorru?cken, bis die Tiere sich zum Sichern aufrichten. Beim Wiederkäuen schliessen sie manchmal die Lichter. Sichert in einem Rudel ein Stu?ck in der charakteristischen starren Haltung, weil es etwas gesehen hat, alarmiert das die anderen Tiere. Um sich Klarheit u?ber ein verdächtiges Objekt zu verschaffen, praktizieren Rehe das sogenannte Scheinäsen, senken das Haupt ins Gras und tun so als seien sie am Äsen, um dann plötzlich aufzuwerfen und das Objekt bei einer Bewegung zu ertappen.

Das grosse Hasenauge sieht seitlich am Kopf. (Bild: Martin Merker)

Beutegreifer rechtzeitig entdecken

Bei vielen Herbivoren sitzen die Augen seitlich am Schädel, was ihnen zu einem grösseren Gesichtsfeld verhilft, aber das plastische Sehen beeinträchtigt. Dank der zusätzlich hervorquellenden Seher können Feldhasen oder Murmeltiere, ohne den Kopf zu drehen, fast 360 Grad u?berwachen, also auch das Gelände in ihrem Ru?cken. Pflanzenfresser sind vom Schicksal dazu ausersehen worden, ihre Tage irdischen Wandelns oft im Magen hungriger Fleischfresser zu beenden. Ihr Überleben hängt davon ab, ob sie einen Beutegreifer rechtzeitig entdecken und fliehen können. Manchmal halten Steinböcke wenige Meter neben oder gar auf vielbegangenen Wanderwegen ein Mittagsschläfchen. Die älteren Böcke haben sich längst an die zweibeinigen Gipfelstu?rmer gewöhnt und sie als harmlos auf ihrer Festplatte gespeichert. Treiben sich Berggänger hingegen abseits der Pfade herum, verziehen sich die Kletterku?nstler in die Felsen. Wenn aber im Herbst jagdlich gewandete, bewaffnete Gestalten ins Reich des Steinwildes einfallen, hat dieses schnell begriffen, dass der Besuch ihm gilt und unfreundlicher Natur ist. Wo sich Grauhunde blicken lassen und Steingeissen und Kitze, Rehe, Gamsjährlinge und Hirschkälber gerissen werden, hält sich das hungrige Wild nicht allzu lange im Freien auf, es äst hastig und sichert immer wieder. Ein Rehbock scheint zu wissen, dass ihm von einem auf dem Feld arbeitenden Bauern keine Gefahr droht, wohl aber von einem behutsam pirschenden Jäger, und er kann zwischen einem Heurechen und einem Gewehr unterscheiden.

Gebirgsjäger haben sich auch schon in die Überkleider der Sennerin gehu?llt, ihr Kopftuch umgebunden und den Stutzen unter den langen Rock geschoben und sich am fru?hen Morgen mit klapperndem Milchgeschirr auf den kurzen Weg zu einer anderen Hu?tte gemacht. Mit dieser List gelang es einem bayerischen Jäger, einen starken Hirsch auf die Decke zu legen, der jeweils oberhalb des Weges austrat und sich zwar der ihm vertrauten Sennerin, nicht aber dem Jäger zeigte. Genauso wie der Jäger durch das Fernglas das Verhalten des Wildes studiert, beobachtet dieses aus der Deckung, wie ein Gru?nrock einen Hochsitz besteigt und kennt oft den Pirschpfad, den er benutzt, vor allem wenn es stets derselbe ist. Wo aus Fahrzeugen und mit Hilfe von blendenden Scheinwerfern geschossen wird, flu?chtet das Wild schon beim Hören eines Motors. Panik bricht aus, wenn Matratzenflieger auftauchen oder ru?cksichtslose E-Biker und Free Rider durch die Einstände brettern.

Gesundes Misstrauen

Bei Beutegreifern sitzen die Augen vorne im Schädel, ermöglichen ein plastisches Sehen, liefern von nahem bis in die Ferne ein scharfes Bild und erleichtern das Schätzen von Distanzen. Dies befähigt einen Luchs oder einen Fuchs, bei einem Beutesprung punktgenau zu landen. Die Fu?chse des Gebirges haben sich ein gesundes Misstrauen gegenu?ber den Menschen bewahrt. Während ein scheuer Birkhahn nichts dagegen einzuwenden hat, wenn er eines Morgens mitten auf seinem Tanzplatz das Zelt eines Ornithologen vorfindet und es gar als Aussichtspunkt nutzt, schrillen bei einer Fuchsfähe die Alarmglocken, wenn in der Nähe ihres Domizils ein getarnter Ansitzschirm zur Beobachtung ihres Gehecks gebaut worden ist, den sie bei ihrer Ru?ckkehr zur Burg trotz der Tarnung sofort entdeckt hat. Kaum sinkt die Nacht herab, packt sie ihre Welpen, einen nach dem anderen, beim Genick und trägt sie zu einem Notbau. Das kann auch eine Drainageröhre, eine Holzbeige oder eine Spalte in Felstru?mmern sein. Der erst in der Mitte des letzten Jahrhunderts unter Schutz gestellte Steinadler beobachtet ein entdecktes Stu?ck Fallwild zuerst aus sicherer Ferne und wartet ab, ob sich Kolkraben daran zu schaffen machen, ehe der Hunger die Oberhand u?ber den Argwohn gewinnt, und der grosse Greif den Kadaver in Besitz nimmt. Wird ein Rabe Zeuge, wie ein Beobachter ein Versteck bei einem Kadaver bezieht, verzichtet er auf ein Mahl. Verlässt der Beobachter seinen Posten und verschwindet, dauert es meist nur ein paar Minuten, bis der hungrige Schwarzfrack sich u?ber das Aas hermacht.

Beim Belauschen der Birkhähne ist es mir passiert, dass ich mit einiger Verspätung am Balzplatz eintraf, als die Hähne schon munter das Tanzbein schwangen und sich im Osten der Himmel bräunte. Am Vorabend hatte ich mit Latschenästen einen behelfsmässigen Schirm errichtet. Mit dem Glas suchte ich im Halbdunkeln nach den Vögeln und sah sie schliesslich schemenhaft. Auf einem Altschneefleck trippelten vier Hähne mit vorgerecktem geblähtem Hals auf und ab, sangen ihr Lied und lieferten sich hitzige Gefechte. Trotz der einsetzenden Morgendämmerung legte ich mich kurzentschlossen auf den Bauch und begann, zu meinem Schirm zu robben. Abrupt stoppte der Gesang. Vier Sichelpaare wurden u?ber dem weissen Unterstoss zusammengefaltet und du?nne Hälse misstrauisch gereckt. Keuchend bewältigte ich die letzten Meter und kroch ins Versteck. Da zischte es zaghaft oben links. Eine beherzte Antwort kam fast simultan von unten links, und dann fauchte der Hahn in der Mitte eine heisere Kampfansage. Mich hatte man vergessen. Und als dann noch eine Henne lockend u?ber den Ballsaal schwirrte, gerieten die Tänzer vollends aus dem Häuschen.

Aus dem Auge, aus dem Sinn

Verschwindet ein Jäger vor den Augen der Birkhu?hner in einem Zelt oder unter einem Tarnnetz, sind diese offenbar der Meinung, damit sei die Gefahr gebannt. «Aus dem Auge, aus dem Sinn». Auch andere Vogelarten, zum Beispiel Enten und viele Singvögel, zeigen dieses Verhalten, wie ich in späteren Jahren noch mehrmals beobachten konnte. Wie nahe man sich an die Hähne und an andere scheue Vögel heranmanövrieren kann, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Vermutlich wirkt eine aufrecht gehende Person bedrohlicher als eine geduckte und wird als Mensch erkannt, insbesondere, wenn sie als Silhouette gegen den hellen Himmel gesehen wird. Wo sich touristisch genutztes Gelände und Birkhuhn- Lebensraum u?berlappen, sinkt infolge der Gewöhnung die Fluchtdistanz. Diese wird unter anderem von Störungen, Jahreszeit, Tageszeit, Witterung, Jagd, Einzeltier, Schwarm, Schneehöhe, Balz, Mauser und von der körperlichen Verfassung beeinflusst. Überrascht ein Berggänger Birkwild, schwingt sich der schmucke Vogel in den Himmel und segelt den Hang hinab. Wähnt er sich unentdeckt, flu?chtet er zu Fuss durch die Zwergsträucher. Männchen glänzen in ihrer Hochzeitsgala und wissen sich mit Tanz und Gesang in Szene zu setzen. Durch möglichst unauffälliges Verhalten und ein braunbeiges, schwarz gesprenkeltes Tarnkleid entgehen die Weibchen der bodenbru?tenden Arten den scharfen Augen ihrer Feinde, wenn sie auf dem Gelege sitzen. Die Färbung und das Punktemuster der Schalen lösen die Konturen der Eier auf, so dass selbst scharfäugige Krähen oder der Fuchs an Gelegen vorbeigehen, ohne sie zu entdecken. Auf Umwegen gelangen Eierräuber dennoch zu einer leckeren Mahlzeit. Sie beobachten ihre Umgebung und sehen mit etwas Ausdauer und Glu?ck eine Henne, die sich eine Zwischenverpflegung gönnt und dann eilig zuru?ck zu ihrem Nest huscht und so dessen Standort preisgibt. Im Fru?hling studieren Elstern die Flugrouten, die von Singvögeln beim Heranschaffen von Nistmaterial und bei der Futtersuche geflogen werden, sehen, wo das Futter hingebracht wird und plu?ndern das Gelege.

Rudelbildung erhöht Sicherheit

Eine ganze Reihe Wildtiere sind nachtaktiv. Ihnen kommt eine anatomische Besonderheit zu Hilfe: das Tapetum lucidum. Diese den Augenhintergrund auskleidende Zellschicht reflektiert das einfallende Licht, und es passiert die Netzhaut zweimal und verstärkt die optischen Signale. Das grelle Licht auf Eis und Firn und der rasche Wechsel von Hell und Dunkel fordern den Augen des Bergwildes einiges ab. Die Pupillen, die sich im Dämmerlicht zu einem breiten Queroval öffnen, verengen sich auf blendendem Neuschnee zu du?nnen Schlitzen und passen sich blitzschnell den Lichtbedingungen an. Rotwild, Stein- und Gamswild bilden Rudel. Das erhöht die Sicherheit eines Einzeltieres, das sich dafu?r einer Rangordnung fu?gen muss. Wo das Rotwild tagaktiv ist, stellen sich die dominanten Hirsche in der Vorbrunft wie Standbilder an prominenten Stellen auf und röhren ins Tal. Taucht in der Brunft ein unbekannter Stier auf, wissen ihn die ansässigen Artgenossen aufgrund seiner Statur, seines Verhaltens, der Stangenlänge und anderer Körpermerkmale und seines Röhrens einzuordnen. Bevor zwei ebenbu?rtige Rivalen auf Tuchfu?hlung gehen, versuchen sie mit Imponiergehabe, einander den Schneid abzukaufen. Demonstrationen der eigenen Kraft wie Bodenforkeln, Fechten mit Ästen und Jungwuchs und Schreien aus vollem Hals gehen u?ber in einen gestelzten, parallelen, hin- und herfu?hrenden Parademarsch ohne direkten Blickkontakt. Gibt keiner klein bei, stossen die Kontrahenten blitzschnell zu, verhaken die Geweihe und schieben sich mit aller Kraft, bis einer sein Heil in der Flucht sucht. Neben akustischen und geruchlichen Komponenten wie Röhren, Parfu?mierung, Harnkontrolle begleiten Körperkontakte (Beknabbern, Lecken) und optische Signale (Mimik, Körpersprache, Lauscher, Wedel) eine bevorstehende Paarung. Optische Signale werden auch zwischen Mutter und Kind und in anderen Situationen als stumme Sprache verwendet. Diese Art der Kommunikation findet sich auch bei anderen Wildtieren.

Text: Martin Merker
Hauptbild: Damian Zenzünen

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